Oder: "Wir sollten über das Kaninchen im Raum sprechen"
Was ein Kaninchen mit einem Schokoriegel gemeinsam hat
Als ich kürzlich dieses wunderbare Zitat (siehe Bildunterschrift) des bekannten Psychologen Viktor Frankl las (von dem ich offen gestanden bis dato noch nie etwas gehört hatte), fackelte mein frischgebackenes Fast-Trainerhirn natürlich sofort ein wahres Synapsenfeuerwerk ab. Frankl war sicherlich weit entfernt davon, über Hundetraining zu dozieren, als er diese Worte in die Welt setzte, aber er trifft dennoch voll ins Schwarze. Und er zeigt auch, wie ähnlich wir als soziale Lebewesen „Mensch“ dem ebenso sozialen Lebewesen „Hund“ sind.
Kurz: Durch diese Worte fühle ich mich meinem Hund Jules noch näher als ohnehin schon. Warum? Weil die Lebensrealitäten einander näher gerückt sind, da es im Grunde eine sehr ähnliche Leistung ist, an der Kasse im Supermarkt nicht einfach dem Impuls zu folgen „Ich will jetzt unbedingt diesen Schokoriegel haben“, wie „Ich will jetzt unbedingt diesem Kaninchen nachjagen“.
Kurze Denkpause. Lasst das mal wirken.
Die Raumgestaltung (auch) als Beziehungsbooster
Was das besonders Zauberhafte an diesem Raum zwischen Reiz und Reaktion ist? Man kann ihn vergrößern. Und man kann ihn ausgestalten. Dieser Raum ist bei einem Welpen (und auch bei einem Kleinkind) noch sehr, sehr klein und die Reaktion folgt quasi direkt auf den Reiz:
„Kaninchen = losrennen“, „Schokoriegel = zugreifen“
Während ich im Laufe der letzten 45 Jahren lernen durfte, erst tapfer an den Schokoriegeln vorbeizulaufen und das Regal an der Kasse irgendwann einfach komplett zu ignorieren, können wir auch unseren Hunden dabei helfen, zu lernen, diesen Raum nach und nach zu vergrößern. Dann darf das Kaninchen zwar angezeigt werden, aber das direkte Hinterherhetzen unterbleibt. Im besten Fall kommt stattdessen die Orientierung zu mir als Halter und – schwups! – auf einmal sind wir zu zweit in diesem Raum und können ihn gestalten. Zum Beispiel mit einem kleinen Renn- oder Suchspiel oder einem besonders leckeren Keks.
Der Weg zum Gestaltungsspielraum
Und damit sind wir auch schon direkt im Hundetraining angekommen. Um unseren Hunden die „Macht“ zu geben, ihre „Reaktion zu wählen“ und dem Reiz nicht hilflos und reflexhaft ausgeliefert zu sein, ist es unendlich wertvoll, regelmäßig und planvoll an der Orientierung und der Impulskontrolle zu arbeiten. Das ist die Basis für alles!
Aber gemach! Ich spreche hier nicht von dem Anspruch sofortiger und erstklassiger Orientierung/Impulskontrolle unter Extrembedingungen („Huiiiii! Ein Kaniiiinchen!“), sondern von ganz, ganz kleinen Schritten. Zum Beispiel durch ein gutes Markertraining („Oh, ein Kaninchen!“ -> „Klick“ -> Toller Verstärker) und durch, für den Hund spannende, gemeinsame Aktivitäten, die immer bei und mit euch stattfinden. Und, und, und …
Den Raum (an-)erkennen
Ich möchte euch dazu einladen, diesen Raum erst einmal sehen zu lernen, um zu erkennen, wann genau eure Hunde ihn betreten und wann sie kurz davor sind, ihn wieder zu verlassen. Und ich möchte euch dazu einladen, den zunächst vielleicht noch sehr, sehr kleinen Raum zu akzeptieren, wie er ist, ihn aber nicht so zu lassen. Dafür ist es unerlässlich, das sorgfältige Beobachten und Lesen der hündischen Körpersprache zu üben.
„Woran erkenne ich, dass mein Hund einen Reiz wahrgenommen hat? Was sind seine Signale dafür, dass er gleich reagiert? Welche Strategien und Werkzeuge stehen mir selbst zur Verfügung, um ein anderes Verhalten bei ihm zu erzeugen, als er es wahrscheinlich von sich aus tun würde?“, das alles ist erlernbar – sowohl für unsere Hunde als auch für uns. Aber ich wäre kein angehender Hundetrainer, wenn ich an dieser Stelle nicht dafür werben würde, sich jemand Erfahrenen zu suchen, der/die dabei unterstützen kann, Fehler zu vermeiden und passende Strategien mit euch als Mensch/Hund-Team zu entwickeln.
Gemeinsam zu mehr Freiheit
So oder so: Es braucht Geduld, Zugewandtheit, das richtige Timing und vor allem auch viel Freude am gemeinsamen Üben und Entwickeln. Der Lohn dafür ist ein hohes Maß an Freiheit durch einen irgendwann ballsaalgroßen Raum zwischen Reiz und Reaktion. Freiheit für den Hund und Freiheit für den Menschen. Für euren Hund werdet ihr mit dem passenden Training von Orientierung und Impulskontrolle garantiert zu einem noch verlässlicheren Partner und zum sicheren Hafen. Und er selbst lernt, sich wesentlich entspannter, ruhiger und souveräner den verschiedenen Herausforderungen des Alltags zu stellen.
Ich wünsche euch viel Spaß beim Vergrößern eures gemeinsamen (Frei-)Raums zwischen Reiz und Reaktion. Und denkt daran: Je größer der Raum, umso mehr Schönes passt dort hinein.
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